
Steffen Ullmann
Senior Portfolio Manager – Investment Grade
Es war eine Zeit der großen Hoffnungen und kühnen Visionen: Als der Euro vor einem Vierteljahrhundert das Licht der Welt erblickte, träumten seine Architekten von einer Währung, die dem Dollar Paroli bieten würde. Heute, 25 Jahre später, erzählt die Evolution des Euro Investment Grade Marktes eine faszinierende Geschichte – allerdings eine mit überraschenden Wendungen und einem durchaus ambivalenten Finale.
Von der Nische zum globalen Player
Die Statistik ist beeindruckend: Eine Verzwölffachung des Marktvolumens seit der Jahrtausendwende. Doch hinter dieser imposanten Zahl verbirgt sich ein fundamentaler Strukturwandel der europäischen Wirtschaft. Der traditionelle, auf Bankkrediten basierende „Rheinische Kapitalismus“ macht zunehmend einem kapitalmarktorientierten Modell Platz. Mit einem durchschnittlichen Wachstum von 9% pro Jahr bei Industrieanleihen vollzieht sich dieser Wandel allerdings in durchaus europäischem Tempo – evolutionär statt revolutionär.
25 Jahre Expansion

Quelle: Bloomberg, EUR Corporate ex Financials (LECFTREU Index) und EUR Financials (LEEFTREU Index); Stand 31.12.2024.
Ein Spiegel des Zeitgeists
Wer die sektorale Entwicklung des Marktes studiert, dem offenbart sich ein faszinierendes Zeitdokument europäischer Wirtschaftsgeschichte. Der Niedergang des Communications-Sektors von über 30% Marktanteil der Industrieanleihen zur Jahrtausendwende auf fast 10% liest sich heute wie ein Lehrstück über geplatzte Träume: Europas gescheiterte Ambitionen, in der digitalen Revolution eine Führungsrolle zu spielen.
Strukturelle Verschiebungen

Quelle: Bloomberg, EUR Corporate ex Financials (LECFTREU Index), Eigene Berechnung, Stand 31.12.2024
Stattdessen dominiert heute der Healthcare-Sektor – ein Triumph der „Old Economy“? Keineswegs. Vielmehr spiegelt sich hier die innovative Kraft der europäischen Pharmaindustrie wider, gepaart mit den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Die Beständigkeit des Automobilsektors trotz Dieselskandal und Chipkrise zeugt von erstaunlicher Resilienz – die derzeit auf eine harte Probe gestellt wird. Ein weiterer bemerkenswerter Trend ist der Einfluss von ESG-Kriterien auf die Sektorenzusammensetzung. Seit 2016 ist der Anteil des Energiesektors rückläufig, wobei dieser Trend nur während der Covid-19-Pandemie vorübergehend gestoppt wurde. Zudem haben sich Sektoren wie Tabak, die von vielen Investoren gemieden werden, nahezu vollständig aus dem Markt verabschiedet.
Die zwei Gesichter der Kreditqualität
In der Entwicklung der Ratings offenbart sich eine interessante Zweiteilung: Während die Industrieunternehmen ihre Bonität mit der Beharrlichkeit eines Schweizer Uhrwerks verteidigten, durchlebten die Finanzinstitute eine regelrechte Abwertung. Dieses Auseinanderdriften erzählt mehr als eine Geschichte von Risikomanagement – sie ist ein Lehrstück über die tektonischen Verschiebungen im europäischen Finanzsystem. Die Finanzkrise markierte dabei eine Zeitenwende: Sie läutete das Ende der AAA-Rating-Ära ein und etablierte BBB als neuen Standard im Finanzsektor. Dass die Covid-19-Pandemie überraschenderweise keine weiteren Ratingverschlechterungen auslöste, sondern im Gegenteil ab 2022 sogar eine Renaissance der Single-A-Ratings einleitete, zeugt von der erstaunlichen Anpassungsfähigkeit der europäischen Wirtschaft – oder vielleicht auch von der zunehmenden Pragmatik der Ratingagenturen.
Divergenz zwischen Finanz- & Industrieanleihen


Quelle: Bloomberg, Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials Aaa (I10361EU Index) , Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials Aa (I10360EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials A (I10359EU Index),, Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials Baa (I10362EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Finance – Aaa (I02203EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Finance – Aa (I02204EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Finance – A (I02205EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Finance – Baa (I02206EU Index); eigene Berechnung; Stand 31.12.2024.
Laufzeit: Die verpasste Chance langfristiger Finanzierung
Doch der vielleicht interessanteste Aspekt dieser 25-jährigen Geschichte ist ein scheinbares Paradoxon: In einer Ära historisch niedriger Zinsen wagten sich erstaunlich wenige Emittenten in den Bereich ultra-langer Laufzeiten vor. War es mangelnder Mut? Oder vielmehr ein subtiles Signal des Misstrauens in die langfristige Stabilität der Eurozone? Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen – eine typisch europäische Mischung aus Vorsicht und anhaltender Skepsis.

Quelle: Bloomberg, Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials 1 – 3 Yrs (I10344EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials 3 -5 Yrs (I10345EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials 5 – 7 Yrs (I10346EU Index), Bloomberg Euro-Aggregate: Industrials 7 – 10 Yrs (I10347EU Index) und Bloomberg Euro Aggregate Industrials 10+ Year (I10348EU Index); eigene Berechnung; Stand 31.12.2024.
Europas schleichende Transformation
Die wohl bemerkenswerteste – und möglicherweise beunruhigendste – Entwicklung ist die zunehmende Internationalisierung des Marktes. Der Anteil nicht-europäischer Emittenten ist von etwa 20% auf über 40% gestiegen, mit US-Unternehmen in der Rolle des lachenden Dritten. Was auf den ersten Blick wie ein Erfolg erscheint – schließlich zeugt es von der globalen Attraktivität des Euro-Marktes – wirft bei näherem Hinsehen unbequeme Fragen auf: Ist Europa dabei, sich vom Produktionsstandort zur reinen Finanzierungsplattform zu wandeln?
Wachsender Einfluss internationaler Emittenten

Quelle: Bloomberg, EUR Corporate (LECPTREU Index); eigene Berechnung; Stand 31.12.2024.
Die größten Emittenten nehmen mit der Zeit immer weniger Gewicht ein

Quelle: Bloomberg, EUR Corporate ex Financials (LECFTREU Index); eigene Berechnung; Stand 31.12.2024.
Die Stabilität der größten europäischen Emittenten über die Jahre hinweg könnte als Indiz für eine gewisse wirtschaftliche Erstarrung gedeutet werden. Während die USA und Asien von einer Innovationswelle zur nächsten surfen, scheint Europa sich in der Rolle des soliden, aber etwas behäbigen Finanziers einzurichten.
Die 10 größten europäischen Emittenten


Quelle: Bloomberg, EUR Corporate ex Financials (LECFTREU Index), Stand 31.12.2024
In den letzten 14 Jahren sind außschließlich die Emittenten Volkswagen AG und Orange S.A. konstant in den Top 10 der größten Emittenten vertreten. Engie S.A., die Mercedes Benz Group AG sowie E.ON SE waren zwar bereits vor 14 Jahren in den Top 10 enthalten, rutschten zwischendurch allerdings runter und waren somit nicht durchgehend vertreten. Enel S.p.A., Siemens AG, Anheuser-Busch, Total Energies SE und Nestle S.A. waren 2010 noch nicht in den Top 10 vertreten, sind aber mittlerweile enthalten. BMW und Telefonica S.A. waren lange ein Teil des Rankings, sind es aktuell aber nicht mehr.
Fazit
Nach 25 Jahren steht der EUR Investment Grade Markt symbolhaft für die europäische Integration selbst: Ein imposanter Erfolg in Zahlen, der dennoch Fragen aufwirft. Die eigentliche Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, ob Europa seinen Kapitalmarkt als Sprungbrett für Innovation und wirtschaftliche Dynamik nutzen kann – oder ob er zum Symbol einer Region wird, die ihre besten Jahre hinter sich hat.
Die Geschichte des Euro Investment Grade Marktes ist damit mehr als eine Erfolgsgeschichte des Finanzplatzes Europa. Sie ist ein Spiegel europäischer Stärken und Schwächen: Beeindruckende Stabilität und Resilienz, gepaart mit einer gewissen Zurückhaltung vor dem großen Wurf. Die nächsten 25 Jahre werden zeigen, ob Europa seinen Weg zwischen Tradition und Transformation findet.
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